Sonntag, 14. September 2008

Kapitel 1 – Das Orakel




There's nobody here, there's nobody near

I try not to care, dead eyes always stare
Let these matters be, don't trust what you see
Take hold of your time, step into the line

There's innocence torn from its maker
Stillborn, the trust in you
This failure has made the creator
So would you tell him what to do? Would you?

“to rid the disease” - Opeth



Das Orakel findet sich, wenn man im Regen nach Süden läuft, frei von Gedanken ist und eine rosafarbene Nelke im Knopfloch trägt. Nur dann lässt es sich finden. Du kannst ihm jede Frage stellen, doch die Antwort muss dir nicht gefallen. In den seltensten Fällen wird dir die Antwort gefallen.


Dies waren die Worte, mit denen sich Kalyka auf den Weg machte. Ihr Herz hatte schwer zu tragen unter der Last der Fragen, die ihre Freunde ihr auf den Weg gaben. Sie würde noch viel schwerer an den Antworten zu tragen haben, wenn sie zurückkehrte. Das konnte sie noch nicht wissen, aber sie ahnte es. 9 Tage lang ging sie nach Süden und pflückte jeden Tag eine neue Nelke am Wegesrand, denn es gab sie zu Hauf auf ihrem Weg. Die Jahreszeit war günstig, die feuchte Erde trieb die Blumen zu Höchstformen an.



Sie hatte keine Chance jemals am Ziel anzukommen, solang sie nicht vergaß was ihr aufgetragen war. Auch das wusste sie und ging trotzdem voran, immer weiter nach Süden. Durch Wälder voll von Ungetümen, auf Nachtlagern voller Spinnen, durch Stürme und Regen und durch brennende Gluthitze.

Nichts konnte sie davon abhalten nach Süden zu gehen.

Es war der Morgen des zehnten Tages als sie es rauschen hörte. Ein reißender Fluss versperrte ihren Weg. Der Weg nach Süden schien verschlossen. Lang saß sie am Ufer und starrte in die Fluten.

„Hör auf zu kämpfen!!

Eine Weile saß sie weiter schweigend da, nicht wissend ob sie aufstehen und suchen sollte oder ausharren bis die Stimme sich erneut zu Wort meldet. Sie traute sich nicht zu reden, aus Angst, sie könne sie verscheuchen. Plötzlich sprang sie auf und rannte wild umher, suchte die Baumkronen ab, schaute hinter Sträucher und drehte auch den kleinsten Stein um. Schließlich streifte sie ihre Waffentasche ab, entledigte sich aller der sorgfältig genähten ledernen Kleidung, die sie an langen Winterabenden am Feuer mühsam gegerbt hatte und sprang.

Tausende Nadelstiche erlebte ihr Körper kurz nachdem er ins Wasser eingetaucht war. Die Stille in der Tiefe war berauschend, beruhigend und Angst einflößend zugleich. Eine Mischung aus Schmerz, Atemnot und Stille zwang sie dazu aufzutauchen. Als ihr Scheitel die Wasseroberfläche durchbrach hörte sie es wieder.

„Du kannst nicht ewig wegrennen“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie da vernommen hatte. Das Orakel schwamm mit ihr im Fluss, schwamm in ihren Gedanken. Es konnte fühlen, was sie fühlt, denken, was sie denkt und die Antworten geben, die tief im Unterbewusstsein darauf lauern endlich freigelassen zu werden. Woher wusste sie das alles? Es war eine zärtliche Frauenstimme die sprach. Eine Stimme getragen von Tauben, umwoben von seidenen Raupenweben. Sie bettet dich in Samt, ohne dass du es bemerkst und entzieht dich jeglicher Wirklichkeit.

Sie musste weißblond sein. Lange Flechten mussten bis zu ihren Hüften fallen, ihre hellblauen Augen müssten sogar die Nacht durchstrahlen können und sie würde ein weißes Kleid tragen. Diese und noch tausend andere Gedanken durchdrangen Kalykas Gehirn während der paar Minuten, die sie scheinbar endlos im Fluss lag, die Arme von sich gestreckt, auf dem Rücken im Strom treibend. Rote Flecken tanzten auf ihrer Netzhaut, jedes Mal wenn sie aus dem Schatten eines Baumes hinaus getragen wurde und der Blick ihrer geschlossenen Augen in die Sonne traf. Als sie die Augen wieder öffnete bemerkte sie den bewölkten Himmel. Jeder Wolkenfetzen schien sie an einen ihrer Freunde zu erinnern, die sie auf den Weg geschickt hatten. Dort, hinter der Linde, das sah aus wie der Lockenschopf von Leiosch, der nicht mehr laufen konnte. Er hatte noch Glück, denn normalerweise überlebt man die Umarmung eines Bären nicht. Er hatte ihr aufgetragen zu fragen ob er jemals wieder laufen können würde. Er wusste selber, dass dies nie der Fall sein würde.

Am Ende des Flusses, ein Wasserfall musste sich dort anschließen, genau darüber fand sie ein Muster, gerade wie dieses, das Nilandia auf ihre Hochzeitsdecke gestickt hatte. Zwei verschlungene beinlose Reptilien aus Wolkentürmen. Ein Kranich durchbrach dieses Naturschauspiel indem er mitten hindurch flog. Seit Menschengedenken war das Erkennungszeichen Nilandias Sippe der Schrei eines Kranichs. Jeder, der sich zugehörig fühle, antwortete mit den Worten „Ich scheine eine Natter zu sein und doch bin ich dein Freund“.
Nilandia hatte ihren Mann verloren. Am Tag vor ihrer Hochzeit war er aufgebrochen um den traditionellen Hirsch zu erlegen, ohne Waffen, nur mit Fäusten und List, wie es die Tradition verlangte. Er war nie zurückgekehrt. Man fand keinen Leichnam und heute, noch Monate nachdem er aufgebrochen war lebte sie mit der bitteren Ungewissheit, ob er nur aus Schmach, keinen Hirsch erlegen zu können nicht zurückkehrte oder ob er dabei ums Leben kam. Auf die Idee, dass er sich nicht bereit fühlte den ewigen Bund einzugehen, kam sie nicht. Ihre Frage an das Orakel war einfach. „Werde ich je wieder glücklich leben?“

„Du bist doch nicht den ganzen Weg gegangen nur um jetzt in meinem Fluss zu schwimmen?“

Kalyka zuckte so sehr zusammen, dass eine kleine Welle ans Ufer schwappte. Dort stand sie. Eine einfache Frau, bei weitem nicht so schön wie ihre Stimme vermuten ließ, alt, gebrechlich fast schien sie. Sie sollte es sein? Sollte eine einfache Frau tatsächlich alle Antworten auf alle Fragen kennen?

„Ich erkenne deine Zweifel. Und ich kann dich beruhigen, ich bin es nicht. Ich bin, wie soll man sagen…“ Sie zögerte als würde sie nach Worten suchen. Aber es schien als würde sie jeden Neuankömmling so begrüßen und erst abwarten bis dieser nach Luft gerungen hatte und einigermaßen wieder zu Verstand gekommen war. Ein geplantes Schauspiel also. Sie holte tief Luft und setzte erneut an. „Nun, ich bin eine Art Sprachrohr.“

Kalyka stieg aus dem Wasser. Sie suchte ihre Sachen zusammen ohne dabei auch nur ein Wort zu sagen. Dann setzte sie sich neben die geheimnisvolle Dame die seitdem geschwiegen hatte. Kurz Durchatmen, Gedanken ordnen. „Für wen sprichst du?“ Kalyka erschrak. Zu lange hatte sie ihre eigene Stimme nicht mehr gehört, so fremd klang sie plötzlich.
Eine sanfte Stimme weckte sie aus ihren Zweifeln. „Sei mutig und stell mir deine Frage. Ich bin sicher ich kann dir helfen. Deswegen bist du doch hier, oder nicht?“

„Ja, ich meine: nein, nicht ganz. Meine Freunde haben mich geschickt. Sie haben mir tausend Fragen aufgetragen Dir zu stellen, ohne deren Antwort ich nicht zurückkehren darf.“

Sie setzten sich an den Fluss, ließen die Füße ins Wasser baumeln. Die Stunden vergingen. Sie sprachen über die belanglosesten Dinge. Ihr Name war Feinad, sie war vor Jahrzehnten aus dem Norden gekommen, über die Berge gezogen und hatte sich dann an diesem Ort voller Magie niedergelassen. Der Fluss gab ihr alles, was sie zum leben brauchte. Morgens floss kaltes Wasser, in dem sie sich waschen konnte, zur Mittagszeit schwammen die Karpfen immer im Schatten der Bäume und ließen sich problemlos fischen und wenn des Nachts die Siedler aus den nahe liegenden Dörfern Hilfe brauchten konnte sie heilende Kräuter im frischen Wasser aufbrauen. Zwischen all den Geschichten, die sie so aus ihrem Einsiedlerleben zu erzählen wusste fand sie aber immer noch Zeit um auf Kalykas Fragen zu antworten. Vieles blieb ungeklärt, aber sie wusste einige gute Ratschläge. Kalyka erzähle eben von Leioschs Unfall vor 2 Jahren, der ihn sein Gehvermögen kostete. Es kostete sie Überwindung davon zu erzählen, denn Leiosch war ihr wie ein Bruder und es schmerzte sie sehr über sein hartes Schicksal zu reden. Eine Pause entstand, als sie nach den richtigen Worten suchte.

„Mach Dich auf und such ihn. Er gehört zu Dir, das weißt Du…“



Die Stimme verschallte plötzlich, als wäre sie vom Wind fort getragen worden. „Wo ist sie hin?“ Die alte Frau blickte ungläubig von dem Käfer auf, den sie die ganze Zeit beobachtet hatte. „Wer? Ich habe niemanden gesehen.“ Ein Blitz durchzuckte Kalykas Körper. Hektisch suchte sie ihre Lederne Kleidung zusammen, nahm die inzwischen verblühte Nelke aus dem Revers, zog die Waffentasche über die Schulter und verschwand ohne ein weiteres Wort zurück in ihr Dorf, Dorthin wo sie ihn zum letzten Mal getroffen hatte. Zu Leiosch.